Was willst du wissen? Warum interessiere ich dich?
Ich kenne die Menschensprache kaum, obwohl ich schon seit ewig hier - wo ist das überhaupt, egal, in einem Botanikum? - seit ewig also hier lebe, aber ich fühle ihre Schwingung, das Vibrieren ihrer Ah´s und Oh´s, wenn Carlos für Einige von ihnen den Raum öffnet und sie sich zur warmen Nachtstunde vor mir einfinden, still, Arm in Arm, und auf den heiligen Moment meines Erblühens warten, und dann atmen sie tiefer und lieben sich ein bisschen mehr, so fühle ich es.
Ich bin risikofreudig und stark. Und sehr kostbar. Ich klettere in höchste Baumkronen hinauf, wenn Bäume da sind. Was sind Bäume? Träume ich?
Oder ich produziere Luftwurzeln und halte mich damit an Felsen fest, wenn Felsen da sind. Was sind Felsen? Träume ich?
Bestäuben lasse ich mich ausschliesslich von meinen Freunden, den Nachtfaltern, da bin ich eigen, oder von dunkelgrauen pelzigen Engeln mit ihren weitgespannten transparenten Flügeln. Ja, ich werde bestäubt, denn ich habe die dazu nötigen Voraussetzungen, das sieht man mir nicht an. Ich schütze meine Knospen sehr innig und lange, kostbar sind sie mir, unscheinbar, braun und länglich, keiner sieht ihnen an, welche Wunder drin verborgen sind.
„Wie alte Wasservögel“ hab ich schon darüber sagen gehört, wenn Carlos jemand mit einer zu lauten Stimme in meinen heiligen Raum mitbringt. Ich stehe da drüber. Das Beste an ihr ist, dass sie mit ihm Töne spricht, die ich kenne, die in mir eingespeist sind seit ich-weiss-nicht-wann.
Wie alte Wasservögel, ach, die Unwissenden, sie haben keine Ahnung, was sich in mir abspielt.
Carlos ist mein Freund. Er ist der Einzige, dessen Sprache mich berührt, als ob sie Hände hätte. So vertraut, weich, melodisch. Er arbeitet in der Reinigungstruppe hier. Jemand, die Yuca heisst, hat ihn mal mitgebracht, die mit der lauten Stimme, sie macht ihr Praktikum als angehende Botanikerin, Spezialausbildung Kakteen oder so. Ich mag sie nicht. Ich zeige mich ihr nicht. Ich mach mich innerlich unsichtbar vor ihr, wenn sie Menschen durch meinen Raum führt. Da ist sie immer sehr schnell und schrill durch, nebenan gibt es meine gewöhnlichen Verwandten, die wochenlang blühen, auffällig leuchten und schamlos ihr Heiligstes herzeigen.
Als ob Carlos mich aus sich geboren hätte fühlt es sich an, wenn er sich sorgsam und lange, auch wenn seine Kollegen schon weg sind, um mich kümmert, sich bei mir aufhält. Um mich einzuatmen. Um sich selbst zu mir auszuatmen. Nährstoffaustausch. Dann kommen Träume über Mexiko hoch. Klänge, Stille.
Ein furchtbarer Traum taucht dank Carlos nur mehr ganz selten auf. Ein Urschmerz war da, ein Mich-abschneiden vom Grund des Kakteenseins, eine Ohnmacht, ein Tod, ein Dröhnen, ein Aufwachen, Enge.
Ich war 10 Jahre alt und hab es einfach gemacht. Der Bauch des Frachtschiffs, in das ich mich eines Nachmittags geschlichen habe, war dunkel, feucht, die Überfahrt lange und laut, und die Essensreste, die ich mit den Ratten teilte, stillten meinen Hunger nicht. Du schaffst das!, hab ich nachts im Kinderheim geträumt, in dem ich nach dem Tod meiner Eltern lebte. Wundersame Geschichten über Deutschland hab ich bei meinen Streifzügen am Hafen gehört. Da wollte ich hin.
Du schaffst das!, rief mein Herz, und ohne Papiere, ohne Geld bin ich halb verhungert in Bremerhaven gelandet. Das Herausschleichen klappte mühelos, ich war wirklich beschützt von meinem Mut, meinem Willen, und dieses winzige Stück Kaktus, das ich zur Erinnerung mitgenommen habe, das vor allem hat mir Kraft und magischen Schutz gegeben, damals, vor über fünfzig Jahren. Eine freundliche Frau von der Organisation, die sich um Migrantenkinder kümmerte, hat mich am Hafen aufgesammelt und mitgenommen und - ach, lange Geschichte.
Du schaffst das, blieb mein magischer Satz, das Stückchen Kaktus war mir Heimat in einem Glas Wasser auf meinem Fensterbrett und ganz leise wuchs und wuchs es und ich sagte ihr - ja, eine SIE auf alle Fälle - deutsche Worte vor, die ich in der Schule gelernt hatte, aber Wachstumsschübe bekam das kleine Ding, wenn ich in meinem Golfo-Slang mit ihm sprach.
Mein entfernter Cousin ist später auch nach Leipzig gezogen. Wir hatten in Tlacotalpan keinen Kontakt, doch hier ist mir seine Tochter begegnet. Yuca.
So bin ich bei Carlos gelandet, vor Ewigkeiten. (sagt man so?) Und er hat diesen Rest einer stolzen Sukkulente - ha! Das bin ich! Hab ich gelernt! Zu irgendetwas ist auch Yuca gut, der ich ja Carlos verdanke, oh! wie kompliziert alles - er hat also diesen Rest, der ich von irgendwas war, in Wasser und später in Erde eingesetzt, eine quälende Zeit, er hat mir vorgesungen, mich als ein Stück von sich selbst gepflegt und geliebt, und ich fing an, mich zu strecken und trieb in seinem Zimmer Richtung Licht.
Einmal kam diese Yuca, und stand vor mir und war sehr laut und aufgeregt, und sagte „Tío, Tío“ zu Carlos, und deutete auf mich, und er bereitete derweil für sie Tamales, und dann geschah eines Nachts keine Ahnung was, fremd war es, Bewegung, Angst, nur die weiche rettende Stimme von Carlos klang wie immer, und er und Yuca haben mich hierher gebracht, wo immer das auch ist. Aber es ist wärmer und heller als in seinem Zimmer, und das ist der Ort, wo ich einmal im Jahr meine Wunder geschehen lasse. Jetzt war ich dafür reif.
Du schaffst das, genau.
Sie fiel mir auf an dem Essensstand vor der botanischen Fakultät, da sie sich auf spanisch mit einem jungen Mann stritt und sie drohte ihm mit ihrem Vater, und da hörte ich dessen Name, und - ja, du schaffst das, klang wieder die vertraute Stimme in mir, die mich seit meiner Flucht aus dem Kinderheim begleitet. Ich war gerade ohne Arbeit, hatte zu spielen begonnen, mich verschuldet, und - ach, ich will gar nicht ins Detail gehen, jedenfalls meine Anstellung als Schuldiener verloren.
Und nun bin ich über Umwege und vor allem über Yuca in der Putztruppe im Botanikum gelandet und mein Leben besteht heute aus Glück und Harmonie und Marisol.
Sie nennen mich „Königin der Nacht“, sie haben halt so Ideen, Carlos hat mich als erster so genannt. Es klingt zauberhaft wenn er das sagt, und so „mo zart“, ein Wort, das ich seit damals erkenne.
Immer mal kommt er auch nachts zu mir, öffnet das Sternendach oben, und meine Bestäuber spüren das auf geheime Weise, und sie tauchen auf, flüstern und flattern und verwöhnen mich. Er hat mir in seinem Singsang erzählt, dass Yuca ihm den Schlüssel überlässt, wenn sie keine Lust auf Dienst hat, und er, der Alte von der Reinigungstruppe, kommt heimlich ausserhalb aller Zeit und summt mir was vor, und das klingt auch so „mo zart“. Dann ist er für mich mein König der Nacht.
Und in seiner Anwesenheit mitten im Dunkel der Nacht geschieht es. Er weiss zutiefst, wann dieser Moment da ist. Und ich nehme wahr, wie sich die Türe öffnet und er jemand mitbringt, die Marisol heisst, und die er mi Amor nennt. Nur wer wie sie und er an Wunder glaubt, geduldig und sanft ist, kann in dem Augenblick dabei sein, wo ich meinen Blütenbabies das Go gebe, ein einziges Mal, im Sommer. Nachts.
Mo zart. Mi Amor.
Wer meinen Prinzessinnen zuschauen darf beim Sich-Öffnen, beim vorsichtigen Abtasten der Luft, beim Heraustreten aus dem Kokon, und wie sie sich beinahe überstürzen, bei ihrem jubelnden Sich-ganz-Befreien, beim stillen kurzen Sein und Leuchten, soll nachher nicht mehr der Mensch sein, der Ersiees vorher war. Hab ich gelesen. (Haha! Reingefallen!) Hab ich gehört. Von Carlos.
Sie haben es eilig, das Licht der Welt zu erblicken, meine Blütenkinder, im Dunkeln, das sie mit ihren zarten Sonnen beleuchten, scheu, und nach Schokolade und Vanille duftend. Ich liebe diesen Moment, dieses Platzen. Ich liebe es, zu atmen in meiner erfüllten Pracht. Ich liebe es, dass die Zeit stehen bleibt. Ich liebe es, wenn Carlos und Marisol in dieser Stunde lange bei mir weilen.
Keine Langeweile, nirgends. Nur Weile.
Ich fange an, Yuca zu mögen.
by (c)Krista Posch
Juni 2024
Bild: (c)Peter Platter. Danke.

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