Berührung

Drei Mal in den letzten Tagen hat ES mich "erwischt"...

Drei Mal im Zusammenhang mit Musik. Unter "erwischt" verstehe ich, ES hat mir aus dem Stand und ohne Vorwarnung die Tränen aus den Augen getrieben, mich im Bauch getroffen, mir den Hals zugeschnürt, es war nicht leicht, ES einfach zuzulassen, weil ich so erstaunt war darüber ... auch wenn ich dieses ES im Leben öfters schon erlebt habe.

 

Auf dem Weg in die Stadt, Richtung Marienplatz, höre ich Musik, einen völlig abgenudelten Abba-Schlager, "Mamma Mia". Und auf dem Marienplatz, neben dem Fischbrunnen, ein Flügel, und vier Musiker, ein Cello noch und zwei Geigen. Auf der Stelle schüttelt es mich und ich schluchze. Vier Männer aus einem fernen Kulturkreis. Alle mit Abstand, alle mit Masken. Und spielen sichtlich begeistert vor etwa dreissig bis vierzig Zuhörern. 

Es hat mich so berührt, diese Sehnsucht nach Spiel, jenseits eines Kunstanspruchs, die sich da zeigte, mit diesen still stehenden Menschen, alle mit Abstand, alle mit Masken, die nicht ins Theater, nicht in ein Konzert gehen können zur Zeit. Dieser Still-Stand.

Applaus. Ich lege einen Schein in den offenen Geigenkasten als das Stück zu Ende ist, ich lasse die Tränen fließen und schiebe mein Fahrrad weiter.

 

Zwei Abende vor dem November-Lockdown sehe ich per Zufall, dass die Staatsoper München die Premiere "Die Vögel" live streamt, weil ja gleich wieder Schluss ist mit singen und spielen. Ich schaue/höre mir die Oper an auf meinem Laptop, wunderbare Stimmen, ein enormer Aufwand an Phantasie für Bühne und Kostüme und plötzlich wieder diese Traurigkeit, dieses ungefilterte Weinen, in diesem Fall berührt von den vielen Ebenen der Geschichte, der Musik, und der Flexibilität und dem unbedingten Willen der Künstler und dieses riesigen Apparates, vor nur 50 Leuten ihre Premiere zu spielen und sie wenigstens im Internet zugänglich zu machen; die Flexibilität, die zur Zeit ja alle, die etwas zeigen wollen, an den Tag legen, Große wie Kleine, die nicht jammern, sondern kreativ Lösungen finden, die auf und zu sperren, und die geschlossenen Zeiten für neue Ideen nutzen.

 

Der Mensch will singen, preisen, jubeln ...

Und auch wenn es jetzt vorrangig um Respekt vor dem Anderen geht, um Schutz von sich selbst und dem Anderen, wozu ich voll stehe, sind das Eigenschaften, die uns angeboren sind und bleiben 💙 Welch ein Trost seit Beginn der Menschheitsgeschichte!

 

Und weiter:  dann die unvergleichliche Aretha Franklin, in dem wunder-großartigen Film Amazing Grace. Neunzig Minuten ekstatische Begeisterung in einer Baptisten-Kirche, wo 1972 die Schallplattenaufnahme und auch dieser Film gemacht wurden.

Das Bewusstsein, dass wir Menschen, welcher Hautfarbe, Religion, Kultur auch immer wir angehören, so sehr uns nach Transzendenz, nach Verbundenheit sehen, sie leben wollen, hat mich zum dritten Mal zutiefst gerührt.

 

Die vier Musiker am Marienplatz, das riesige Ensemble der leeren Staatsoper, die Menschen in der Baptisten-Kirche....

 

Was wir mit Körper und Stimme und Geist so begeistert und ganz tun,

was ich mit Geist und Stimme und Körper so begeistert und ganz tue, wie wir uns mit Geist und Stimme und Körper so begeistert und hingebungsvoll ausdrücken wollen/können/dürfen/müssen/brauchen, laut und still, wird immer da sein, an großen Theatern oder auf der Brettl-Bühne, unterm Baum in der Au, in der Küche oder am Fischbrunnen,  und darf mich und uns berühren, weil wir Berührung brauchen, aussen und innen, und sie zuzulassen lässt uns heilen.

 

Text:KPosch

Foto:(c)Anna Eberwein

 

 

 

 

 

 

 

Kommentar schreiben

Kommentare: 0